DIE ZERSPLITTERUNG DES ICHS

von Barbara Schmidt M.A.
Betrachtungen zu dem Video „Dämonen und Engel“ von Susanne Weber-Lehrfeld
September 2016

In „Dämonen und Engel“ ist die Künstlerin Susanne Weber-Lehrfeld sich selbst und ihrem künstlerischem Schaffen treu geblieben. Die Figuren in diesem Kurzfilm sind lediglich metaphorische Darstellungen die als Instrument dienen, durch welches mehrere bildnerische, personelle, gesellschaftliche, und zeitliche Ebenen miteinander verbunden werden können.

Die narrativen Strukturen sind verworren und ellipsenhaft angelegt, was z.B. durch unübersichtliche Personenkonstellationen oder subjektive Blickwinkel, wie den Point-Of-View-Shot, erreicht wird. Die Bildsprache orientiert sich hauptsächlich an der Technik des Chiaroscuro, die dem expressionistischen Film entstammt. Die Lichtführung, die sich dem Chiaroscuro gemäß an Licht und Schatten ausrichtet, ist sehr auffällig. Ebenso fallen die extremen Perspektiven der Ober- oder Untersicht auf, die von der Blickrichtung der Protagonistin gesteuert werden. Sie machen auf die emotionale Dichte des Films aufmerksam, vermitteln das Gefühl der Verlorenheit. Durch die häufig starke Betonung der Vertikalen und die Mehrfach-Überblendungen kommt es zu einer sogenannten „Zersplitterung“ des Bildes, die die Zerrissenheit der Figuren noch unterstreicht. Die akustische Unterlegung des Films dient ähnlich dem Voice-Over ebenfalls dem Hörbarmachen von Gedanken und Gefühlen. Wie in den Filmen des Genres Surrealistischer Film wird auch hier die In-Frage-Stellung der konventionellen üblichen Sehgewohnheit und Perspektive thematisiert. Dabei bilden einzelne metaphorischen Bilder, ihre Wirkungsintention sowie deren psychoanalytische Erklärungsmuster, die Basis der expressionistischen Grundstruktur.

Gerade bei dieser Vorgehensweise ist die wichtigste, weil unkonventionellste Technik, was Perspektive und Sehgewohnheit des Rezipienten betrifft, die Subjektive Kamera. Die häufigste Verwendung der Subjektiven Kamera im Film ist das sogenannte „suchende Auge“, bei dem aus der Perspektive des Suchenden sein Blick nachvollzogen wird. Eine „gemäßigte“ Version der Subjektiven Kamera ist der Point-Of-View-Shot, bei welchem nur eine kurze Einstellung aus der Perspektive einer bestimmten Figur gezeigt wird.

Dabei ist die Kameraführung insofern elliptisch, als dass nur gezeigt wird, was der jeweilige Rezipient sieht. Alles andere ist nicht im Bildausschnitt sichtbar, was wiederum Subjektivität ausdrückt. Doch die Subjektive Kamera hat nicht nur eine aktive Dimension, sondern auch eine passive. Sie ist das Ziel von Blicken und Handlungen der anderen Figuren des Films. Die Kamera ist in „Wie begegne ich der Begegnung mit mir selbst“ wie eine zusätzliche Person zu werten, die manchmal auch die Rolle des kritischen Regisseurs einzunehmen scheint. Betrachtet man die erste Sequenz (marschierende Füße die ihren Weg suchen) vor diesem Hintergrund und bringt sie in Verbindung mit der Definition des Doppelgängermotivs, dann wird deutlich, daß die sich selber sehende Person den Doppelgänger markiert, nicht etwa das Objekt. Für Susanne Weber-Lehrfeld manifestiert sich Wirkungs- und Aussageintention des Films gerade in diesem Augenblick des Sich-selber-sehens.

Die Zersplitterung des Subjekts ist ein Instrumentarium, das hier eingesetzt wird, um innere und äußere Zustände darzustellen, daher besteht die Technik des Films darin, abwechselnd Teilansichten der Protagonistin und ihrem möglichen Doppelgänger zu zeigen. Der Zuschauer wird aufgefordert, die jeweilige Situation zu erkennen und Schlüsse daraus zu ziehen. Dabei geht es immer wieder darum direkte Subjektivität auszudrücken. Dies wird vor allem durch subjektivierende Kameratechniken, wie Point-Of-View-Shots, dem Sichtbarmachen von Gedanken, Träumen, Wünschen und erreicht. Hier wird metonymisch die Verlorenheit des Menschen bildnerisch dargestellt, bewegen sich die Protagonistin und die multiplen Subjekte in einer Sphäre der Fremdheit – verdeutlicht durch die milchigweiße, undurchsichtige Komposition. In dieser Szene taucht die Protagonistin in der unteren linken Bildhälfte selbst auf als sehender Blick und gleichzeitig aber als Objekt des Blickes der anderen Figuren. Wie Puppen sind die sichtbaren Personen in den Raum hingestellt und fast räumlich fixiert. Starr wie die Kamera, die alles in Bildern festhält, sind sie zu einem Schau-Bild geworden, füllen mit ihrer Figurenkonstellation den Rahmen, den der Film oszilliert, fast aus. Dieses Bild der Leere und Blicke, die sich nicht treffen, verweisen auf die Kamera. Sie kommt den Figuren zuvor, oder sie verweilt, wenn diese längst aus der Einstellung verschwunden sind.

Es ist eine Schlüsselszene, die auf die Subjektivität des Gezeigten verweist, indem sie Gesehenes aus der Perspektive des Sehenden und dann den Sehenden selbst zeigt und ihn damit als Subjekt des Blickes ausweist. Die suchende Bewegung der Kamera, auch ihr Vibrieren und Atmen bei starrer Einstellung, suggeriert ein Subjekt, das dahintersteht und die Wahrnehmung lenkt, also zum Doppelgänger des Doppelgängers macht. Diese Szene steht sinnbildlich für den Blick des Rezipienten, der immer der des Voyeurs, des Beobachters ist. Blick und Bild verschmelzen im Hinblick auf ein Gemeinsames durch die Identifizierung mit dem wahrgenommenen Sichtbaren in der Virtualität des realen Bildes, denn einerseits ist der Zuschauer von der Leinwand getrennt, andererseits findet er sich dort als Blick wieder.

Genau wie der Zuschauer, der im Dunklen sitzt und alles ungesehen betrachten darf, was sich auf der Leinwand enthüllt, arrangiert sich auch die Protagonistin in der letzten Szene und beobachtet aufmerksam und gespannt wie der Kinozuschauer, sich selbst als Voyeur ihrer eigenen Handlungen, als sie durch einen durchsichtigen Vorhang in einen anderen Raum tritt. Sehend, aber ohne gesehen zu werden, kann der Zuschauer genau wie die Protagonistin an die Stelle eines Anderen im Film treten. Jacob und Wilhelm Grimm haben bereits im Deutschen Wörterbuch (1860) diesen Perspektivwechsel, wonach der Doppelgänger „jemand [ist], von dem man wähnt er könne sich zu gleichen Zeit an verschiedenen Orten zeigen“, beschrieben.

Das Doppelgängermotiv und dessen tiefenpsychologische Bearbeitung trifft das Kino in seinem Kern, wie es Wilhelm Roth so schön in Das Kino ist das Double der Realität formuliert hat. Indem der Film auf seinen Spiegelcharakter hinweist, wird das Unheimliche betont, das von ihm ausgeht wie von jedem Dispositiv, das die Begegnung eines Subjekts mit sich selbst hat.

In der Mythologie sowie in der Literatur ist das Motiv des Doppelgängers ein sehr altes Motiv, wir finden es bereits in Antiken Werken, wie etwa der Tragödie Helena des Euripides oder Plautus‘ Menaechmen. In der Literatur und Forschung ist das Doppelgängermotiv seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ein ausgiebig behandeltes Thema. Als literarische Fiktion wird der Doppelgänger sowohl allegorisch als auch symbolisch interpretiert. Die psychologisch tiefste Darstellung liefert Dostojewskis’ Jugendroman Der Doppelgänger. Aus der Romantik stammen der Roman Siebenkäs von Jean Paul (1796), in dem er jene Erscheinungen als „Leute, die sich selber sehen“ beschreibt, sowie Die Elixiere des Teufels von E.T.A. Hoffmann (1816).

In seinem Aufsatz über Das Unheimliche (1919) definiert Freud am Beispiel der unheimlichen Elemente in Hoffmanns „Elixiere des Teufels“ das Doppelgängertum als „das Auftreten von Personen, die wegen ihrer gleichen Erscheinung für identisch gehalten werden müssen, die Steigerung dieses Verhältnisses durch Überspringen seelischer Vorgänge von einer Person auf die andere – was wir Telepathie heißen würden – , so daß der eine das Wissen, Fühlen und Erleben des anderen mitbesitzt, die Identifizierung mit einer anderen Person, so daß man an seinem Ich irre wird oder das fremde Ich an die Stelle des eigenen versetzt, also die Ich- Verdopplung, Ich-Teilung, Ich-Vertauschung.“

Mit der Erforschung des Motivs in der Weltliteratur beschäftigte sich auch Otto Rank in Der Doppelgänger (1914) unter Berücksichtigung des Schwarz-Weiß-Films aus dem Jahr 1913 mit dem Titel Der Student aus Prag. Rank führt das Phänomen der Verdoppelung auf animistische Seelenvorstellungen der primitiven Völker zurück. Rank stützt sich dabei auf Frazer, der in Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker von 1928, Schattenbild, Name und Portrait im „Glauben“ der Wilden als Teile der Persönlichkeit erkennt. Dabei geht es um den uralten und weit verbreiteten Volksglauben, demzufolge Menschen die unheimliche Erfahrung machen können, dass sich ein Teil ihres Selbst abspaltet und ein Eigenleben führt. Das abgespaltene Selbst tritt in der Gestalt eines Spiegelbildes auf, das sich plötzlich selbständig macht oder als Schatten, der sich von seinem Besitzer löst. So führt die Schattenlosigkeit der Figur Schlemihls in Adelbert Chamissos’ Werk Peter Schlemihls wundersame Geschichte zum Verlust der Identität und Ausschluss aus der Gesellschaft, da ihm mit dem Verkauf seines Schattens auch die Seele selbst verloren gegangen ist.
Chamisso hat seinen Doppelgänger als unvollständig, in zwei Teile gespalten, bzw. als fehlendes Teil zum Ganzen gestaltet, während in Oscar Wildes’ „Das Bildnis des Dorian Gray“, das Porträt des Protagonisten als Doppelgänger fungiert und die Funktion des Identitätsaustausches übernimmt, an seiner Stelle altert sowie die Spuren seines ich-bezogenen, lasterhaften Lebens trägt.

In „Wie begegne ich der Begegnung mir selbst“, zeigen die letzten Bilder, daß die Träume und Wünsche ins Leere laufen, sie greifen nichts auf, sondern trennen und setzen eine scharfe Zäsur, zersplittern die Filmbilder. Die Empfindungen der Protagonistin spalten sich in zwei einander gegenseitig ausschließende, jedoch parallele narrative Räume auf. Dabei ist es denkbar, daß es sich um eine Instanz handelt, die der Selbstbeobachtung und Selbstkritik dient – von Freud als Über-Ich eingeführt; d.h., vielleicht hier als gleichzeitige Suche nach der persönlichen Identität und der künstlerischen Identität gedacht ist. Ähnlich wie bei einigen literarischen Doppelgängerfiguren, bzw. deren Originalen, die außerhalb der Gesellschaft leben, ist auch der Künstler innerhalb seines künstlerischen Schaffens von dieser Gesellschaft distanziert, d.h., weitestgehend auf sich selbst gestellt.

Dementsprechend kann dann in den letzten Bildern der Konflikt von Protagonistin und Doppelgängerin eingeschrieben sein, der im letzten Bild als Kreisbewegung, dem Sinn nach als unauflöslich, fixiert wird. Es ist die Suche nach Identifikationsformen, die in „Wie begegne ich der Begegnung mit mir selbst“ vom suchenden ICH schließlich unter der Spannung der realen Differenzen in der Kunst und dem schöpferischen Akt gefunden werden.

Hier wird eine idealistische Imagination beschworen, erst das Ausbrechen des empathischen Künstlers aus vorgegebenen Rollenverhalten und Künstlerkonzepten kann zur ICH-Befreiung führen.