128

Einblicke in die Arbeit ’128’
von Lee Negris

Im Rahmen des Projekts ‚PRÉLUDE -Intervention on site’ an der Kunsthochschule Weißensee präsentiert Susanne Weber-Lehrfeld ihre Installation und Performance mit dem Titel ’128’ als Versuch der Auseinandersetzung mit den Polen Weite und Enge bzw. Freiheit und Einschränkung, sowohl im urbanen Umfeld, als auch im eigenen psychischen und sozialen Handlungsrahmen. Im Dialog mit dem Standort an der Warschauer Brücke vor der East Side Mall in Friedrichshain begrenzt die Künstlerin ihren Bewegungsraum auf eine 2×2 Meter große Fläche. Dort entsteht der Edge East Side Tower und wird, mit einer Höhe von 140 Metern, eines der höchsten Häuser Berlins. So wird in Bezug auf die räumliche Einengung auch nach der Größe und Relation zwischen Architektur und menschlichem Körper gefragt.
Durch die Installation ausgewählter Phrasen aus den Tagebüchern von Louise Bourgeois bestehend aus 128 ca. 20cm großen roten Buchstaben aus Silikon erzeugt sie die räumliche Begrenzung für ihre Bewegung. Das Spiel mit dem Raum wird ebenso in der  Ausdehnung der amorphen, wellenartigen Komposition der Installation betrieben. Diese umgibt sie auf einer Gesamtbodenfläche von 6×6 Meter und erzeugt auch einen gewissen räumlichen Abstand zum Betrachter. In dieser Art transportiert die Künstlerin eigene Muster der Einengung und des Urteilens oder verurteilt Werdens und ist zugleich in ihrer Bewegung frei. Die Buchstaben entstanden über ungefähr zwei Monate und wurden mit der Hand gefertigt. Auch das Platzieren vor Ort und die Erschaffung der Komposition stellen einen Vorläufer zur Performance dar.
Als erstes fordert sie durch den Text einen Raum der vom konventionellen Urteil befreit ist: MAKE THE SPACE EMPTY OF JUDGEMENT (Quelle unbekannt). In einem nächsten Schritt stell sie fest: ÄNGSTE SIND DIE TRIEBKRÄFTE DER WELT und schlägt einen konstruktiven und heilenden Umgang mit diesen Ängsten vor: GRAB SIE AUS/ STELL DICH IHNEN/ ZWING SIE DIR ZU HELFEN. Als Letztes stellt sie sich auch dem vernichtenden Gefühl: TERROR NICHT GELIEBT ZU WERDEN und lädt dazu ein es zu hinterfragen (Louise Bourgeois, Tagebucheintrag, in: Bernadac, Marie-Laure, Obrist, Hans-Ulrich. Destruction of the Father, Reconstruction of the Father. Schriften und Interviews 1923 – 2000, Zürich: Ammann Verlag 2001, S. 77). Die Begegnung mit den eigenen Ängsten kann nur durch die Loslösung vom zermürbenden Urteil hin zu mehr Mitgefühl für das eigene Selbst stattfinden. Gleichzeitig entsteht vor Ort eine Parallele zum Akt des Bauens und eine direkte Verbindung zur konstanten Veränderung und Bebauung in Berlin: die Erde wird ausgegraben, die Konstruktionen stellen sich der Natur und den physikalischen Gesetzen, die Materie wird bezwungen.
Der räumliche Abstand zum Betrachter wird im Element und der Nutzung der Musik aufgegriffen und verstärkt. Wie viele Leute in der Öffentlichkeit trägt die Künstlerin Kopfhörer und grenzt sich somit auch akustisch von ihrer Umgebung ab. Die Überforderung bzw. Überwältigung in der Stadt durch Ton und Geschwindigkeit erzeugt oft eine Unsicherheit, die hier durch die fremde, unkontrollierbare und für das Publikum nicht vernehmbare Musik simuliert wird. Ohne vorherige Absprache zu den genauen Stücken oder Genres wird Susanne Weber Lehrfeld von Künstlerin und Mitarbeiterin Lee Negris mit den Tönen ‘bespielt’. Die Künstlerin selber liefert sich während der Performance diesem unvorhersehbaren Moment aus und ist bereit, die aufkommenden Gefühle auszuhalten und spontan d.h. ohne vorgesehene Choreographie auf die Musik zu reagieren. In diesem Gestus ist die Künstlerin ganz bei sich und wird durch die Überwältigung veranlasst, ihre Heimat in sich zu finden. Die spontanen Reaktionen und daraus resultierenden Gesten folgen nicht immer dem Rhythmus oder Melodie der Stücke und zeugen von einem konzentrierten und tiefen Bewusstseinszustand in der Bewegung.
In dieser akustischen Abgrenzung durch die Musik in den Kopfhörern bleibt für den Betrachter ein Eindruck des inneren Geschehens sichtbar, das unfiltriert über Konventionen und Regeln hinausgeht. Es entsteht ein Bild für die unkontrollierbaren Faktoren im Leben, denen wir nur mit Achtsamkeit, Auseinandersetzung und der Steuerung der eigenen Ängste und Gemütszustände als Überlebensstrategie begegnen können. Gleichzeitig soll auch die Distanz und das unzusammenhängende zwischen den Menschen und ihren Begegnungen in der Öffentlichkeit verkörpert werden. Der Zuschauer wird mit dieser Frustration selber konfrontiert, indem er die Bewegung ohne Musik aushalten muss. Durch den Verlust des gemeinsamen Referenzpunktes Musik entsteht ein Moment der Irritation, wodurch der Betrachter eingeladen wird mitzudenken.
Die Künstlerin gelangt am Anfang der Performance über die Treppe, die von der Straßenebene nach oben führt, auf den Platz vor der Mall und nimmt ihre Position in der umrandeten Fläche ein. Die steile Betontreppe bildet so eine Brücke zwischen dem untergründigen, alltäglichen und dem besonderen Ort der Auseinandersetzung. Die Dauer und Intensität der Performance variieren je nach Stimmung, Körper- und Zeitgefühlt, Tag, Wetter und erweisen erneut die Performance als flüchtig und einzigartig.

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Insights into the work ’128’
by Lee Negris

As part of the project ‚PRÉLUDE -Intervention on site’ at the Kunsthochschule Weißensee, Susanne Weber-Lehrfeld presents her installation and performance titled ’128’  in an attempt to examine the dichotomy of expanse versus confinement, freedom as opposed to restriction within the urban field as well as in an individual psychosocial framework. In a dialogue with the locale at the Warschauer Brücke in front of the East Side Mall in Friedrichshain Berlin, the artist restricts her field of movement to an area of 2×2 meters. The Edge East Side Tower will be one of the highest buildings in Berlin, measuring 140 meters upon completion. Thus the question pertaining to size and relation or scale of architecture to the human body is posed in reference to the site and the spacial restriction within the performance.

This spacial restriction is achieved through the installation of selected phrases taken from Louise Bourgeois diaries comprising of 128 aprox. 20 cm large red letters made of silicone. The text surrounding her during the performance in an amorphous, wavy composition extends over a total surface area of 6×6 meters creating a certain distance to the spectator. In this manor the artist also transports her own patterns of restriction and experiences of judging and being judged. The letters were created by hand over the span of almost two months prior to the performance. The installing and forming of the composition on the floor constituted an action in itself, preceding the actual performance.

Firstly she demands: MAKE THE SPACE EMPTY OF JUDGEMENT. In a next step she states: ONE’S FEARS DRIVE THE WORLD and suggests a constructive and healing approach: DIG THEM OUT/ FACE THEM/ FORCE THEM TO HELP YOU. Lastly she confronts the obliterating feeling of: ANGST NOT TO BE LOVED and invites the viewer to challenge it. (Louise Bourgeois, Tagebucheintrag, in: Bernadac, Marie-Laure, Obrist, Hans-Ulrich. Destruction of the Father, Reconstruction of the Father. Schriften und Interviews 1923 – 2000, Zürich: Ammann Verlag 2001, pg. 77) The confrontation with ones own fears can only take place though releasing crushing judgement leading to heightened self-acceptance. At the same time a metaphor for the act of building itself and a connection to the everlasting change and construction in Berlin is created: to dig up the earth, to face the laws of physics, to force matter into a new shape.

The spacial distance to the spectator is revisited and enhanced through the element and usage of music. Like many people in the public space today the artist is wearing headphones and acoustically separates herself from the environment. The mental overload and feelings of being overpowered by the urban element though sound and speed create an uncertainty, that is simulated though the unfamiliar music that is not audible to the public. With no prior agreement as to the pieces or genes of music Susanne Weber-Lehrfeld receives the sounds selected by artist and contributor Lee Negris directly to the headphones. The artist exposes herself to this unforeseen moment and is willing to endure the arising feelings, translating them into spontaneous i.e. not choreographed movements reacting through the music. The artist is in a state of being with herself and finds her home within. The impulsive reactions and resulting gestures do not always follow the rhythm of the music and testify to a deep and concentrated state of being within the movement.

In this acoustic separation though the music in the headphones, this slight impression of the inner occurrences becomes visible and surpasses rules and conventions unfiltered. An image remains that stands for the uncontrollable factors in life that can only be encountered with mindfulness, reflection and the directing of ones own fears and states of feeling as a survival strategy. At the same time the distance and disjointed nature of the human encounters in the public sphere is embodied. The viewer is confronted with this frustration by having to endure the movements without the music. Through the loss of the common frame of reference in form of music there is a factor of irritation that invites the viewer to formulate their own thoughts.

During the beginning of the performance the artist reaches the plaza in front of the mall by way of a large staircase leading form the lower street level to the level above. The steep concrete steps form a bridge between the daily and mundane toward a dedicated space of reflection. The duration and intensity of the movement varies according to mood, physical condition, as well as time of day and weather and once again underlines performance as ephemeral and unique.

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