DAS SICHTBARE UND UNSICHTBARE

von Barbara Schmidt M.A.
Betrachtungen zu dem Video „Haltung“ von Susanne Weber-Lehrfeld
September 2016

In der Auseinandersetzung mit dem Kurzfilm „Haltung“ von Susanne Weber-Lehrfeld ist erkennbar, daß sie sich der Ich-Perspektive im Kurzfilm thematisch, ästhetisch sowie technisch verschrieben hat. Der Kurzfilm ist in der multilateralen Medienlandschaft als ein eigenständiges Genre zu verstehen, das gerade seinen besonderen Wirkungsgrad durch die inhaltlichen sowie filmästhetischen Mittel erzielt. Das ästhetische Kunstmittel der intensiven Kürze wird zu einer fragmentarischen Darstellung der erzählten Zeit. In der Fokussierung der intensiven Kürze kann der Kurzfilm neue überraschende Erkenntnisse und Auflösungen bieten. Der Kurzfilm zeigt lediglich den einzelnen Ausschnitt eines erzählenden Momentes, der genauer hinsieht und durch die komprimierte Darstellung eine stärkere Wirkungsintention hat. Wie ein einzelner, scharfgestellter mikroskopischer Bildausschnitt, herangezoomt, vergrößert und schärfer gestellt, wird dieser Teil der Welt viel intensiver, genauer und schärfer dargestellt. Es kann ein Ausschnitt aus dem eigenem Leben sein, den eigenen Gedanken, Gefühlen, Träumen, sowie der eigenen Erinnerung. Der Rezipient wird zu einer intensiveren Beschäftigung angeregt, wird aufgefordert, Zusammenhänge zu erkennen und zu einem neuen Ganzen zu fügen, denn wie Hickethier (Film- und Fernsehanalyse) anmerkt „die Geschichte, die einem Film zugrunde liegt, geht nicht nur im Gezeigten auf, sondern umfasst auch Nichtgezeigtes“. Aus diesem Grund können besonders die Kurzfilme den Rezipienten zutiefst verunsichern, berühren, schockieren, provozieren und genau das macht sie so faszinierend.

Desweiteren bedient sich Susanne Weber-Lehrfeld der Schnitt- und Montagetechnik des surrealistischen Films. Der Surrealismus wendet sich gegen den als absolut gesetzten Rationalismus, gegen die Vorherrschaft der Vernunft, gegen die Dominanz der Logik, gegen die dominierenden Bilder und Vorstellungen von Wirklichkeit. Zu den bekanntesten Bespielen des filmischen Surrealismus gehört „Ein andalusischer Hund“ (Un chien andalou) (1928) von Luis Buñuel und Salvador Dali. Analog zu diesen großen Vorbildern macht Susanne Weber-Lehrfeld klar, daß es in ihren Filmen wie im Surrealismus wesentlich um das Unbewußte geht, das jedoch über verschiedene Methoden bildnerisch aktiviert und somit für die Phantasie fruchtbar gemacht wird. Es geht dabei um die intensive Darstellung der inneren Realität, deren Objekte real ins Leben treten. Dies geschieht durch die gleichmäßigen Filmschnitte, die eine doppelte Funktion erfüllen; zum einem zeigt der Filmschnitt die Differenz von filmischem und natürlichem Sehen, zum anderen wird durch die Regelmäßigkeit der maschinellen Mimikry die Bewegungsform des Auges nachgeahmt, d.h., der Filmschnitt ahmt natürliches Sehen nach. Allerdings wertet das mechanische Auge nicht wie das menschliche Auge, blendet dadurch nicht aus, sieht die Wirklichkeit wie sie ist. So wird auf die real existierende Diskontinuität des Auges und des Blickes verwiesen, auf diese Art rückt der Film das Sehen selbst ins Zentrum.

So wirken die Filme von Susanne Weber-Lehrfeld, ähnlich wie der Film „Ein andalusischer Hund“, wie ein Traum (Buñuel bezeichnete den Film auch immer wieder als das Ergebnis des Zusammentreffens zweier Träume – seines und Dalis). Eine Annäherung an die Freudsche Traumdeutung finden wir bereits im „Ersten Manifest des Surrealismus von 1924, von André Breton. Breton glaubt an eine mögliche Vereinigung von Traum und Realität in einer „réalité absolue“, eben der „surréalité“.

In „Haltung“ zerfällt die Welt ebenfalls wie im Traum in zwei klar voneinander getrennte Bereiche; der Ich-Erzähler spaltet sich in ein erzählendes und ein erlebendes Ich, je nach Distanz und Wissen in Bezug zur erzählten Welt. Die Perspektive kann aus der Innensicht oder der Außensicht geschildert werden, d.h. die visuelle Dramatisierung erfolgt über die subjektive Weltsicht der Protagonistin, während die Handlungsdramaturgie über die Rekonstruktion des Innenlebens der Protagonistin vermittelt wird. Für Susanne Weber-Lehrfeld ist das filmische Geschehen auch Teil einer Kommunikation zwischen Werk und Rezipient und somit gestaltet sie das filmische Geschehen als Sinnhaftes und die Filmrezeption als eine symbolische Handlung. So gibt der Film dem Rezipienten Einblick in seine eigene verdeckte Welt und in die verborgene Welt eines anderen Menschen, dem auf der Leinwand.

Auf diese Weise stellt sie komplexe soziale Prozesse dar, die sich den direkten Beobachtungen entziehen. Dabei geht es ihr nicht darum, Tatsachen festzustellen oder Forderungen zu formulieren. Sie rückt mit ihren Filmen das Sehen und die Wahrnehmung selbstreferentiell ins Zentrum. Ganz unbemerkt wird dabei der Blick des Zuschauers vom Blick der Kamera in das Filmbild hineingezogen, werden die Zeichen der Objekte und Räume als Kulisse der Gefühle entblößt, wird eine enge Wechselbeziehung zwischen Gefühlsdarstellung und Technik hergestellt. Die optische Isolierung der Protagonistin funktioniert über das Spiel mit Vordergrund und Hintergrund, Subjektivität und Umwelt, oszilliert der Wechsel, der die Spannungspunkte im Film bestimmt, Leere, Beziehungslosigkeit, Mangel und die immer wieder durchbrechende Suche nach Identität.

Dieser Film will aufdecken, entblößen; es geht um Weiblichkeitsinszenierung zwischen Affirmation und Provokation. Susanne Weber-Lehrfeld macht aufmerksam auf die Konstruiertheit der Geschlechter, spielt und reproduziert auf affirmative Weise mit Weiblichkeits- und Identitätskonstruktionen, nimmt dabei die bipolaren Weiblichkeitsklischees des Patriarchats kritisch ins Visier. Immer wieder will sie uns, nach ihrer eigenen Aussage, die Gründe für die Doppelnatur des Menschen, die in den gesellschaftlichen Lebensvorstellungen und Konventionen liegen, aufzeigen. Dabei führt sie uns vor Augen, dass all unser Handeln, Fühlen und Denken durch erlerntes Wissen und den gewohnten Blick auf die Welt zustande kommt, wodurch wir unsere Wirklichkeit überhaupt nicht wertfrei erkennen, jeder Wahrnehmung ist immer schon irgendeine bestehende Vorstellung von Wahrheit inbegriffen, d.h. es entsteht auch immer eine neue Konstruktion von Identität.

Auf ihre ganz eigene Art und Weise spielt Susanne Weber-Lehrfeld mit verschiedenen Weiblichkeitsinszenierungen, macht sie zum Thema ihrer künstlerischen Arbeit. Ihre filmische Inszenierung ist ausgesprochen künstlich, was wiederum ein Verweis darauf ist, daß auch die verschiedenen Weiblichkeitsidentitäten etwas Konstruiertes sind. Bemerkenswert ist, wie sie sich in diesem Film archetypischer Weiblichkeitsidentitäten bedient, sie umdeutet und hinterfragt. Ihre bildnerische Ausformung im Film „Haltung“, um den Mythos von der Verführung durch das weibliche Geschlecht darzustellen, erfolgt dadurch, daß sie die Charakteristika der bildnerischen Ikonologie der verschiedenen klassischen Aphrodite Skulpturen mit ihrem Körper umsetzt. Dabei ist ganz eindeutig, daß Susanne Weber-Lehrfeld immer die Distanz zwischen ihren Themen und ihrer Person wahrt, durch ihre Darstellung der Aphrodite ist eine neue (Film)-Identität entstanden. Durch die Darstellung des Unmöglichen und Fremden in den myhologischen Raum verlegt, bietet sie eine Projektionsfläche für Träumereien und Wunschphantasien, um von hier aus einen Zugriff zu einer neuen Wirklichkeit zu haben. Die Differenz zwischen der gewohnten Sichtweise auf den menschlichen Körper und seiner Bilddarbietung als Traumwesen öffnet einen Raum, der über das Geschehen auf der Fläche des Bildobjektes zu einer metaphorischen Erfahrung von Sichtweisen und Wahrnehmungen führt.

Indem die Protagonistin in die verschiedenen Formen und Rollen der Aphrodite schlüpft, mit ihrem Körper eine andere Aphrodite erschafft, erhält die Figur aufgrund ihrer zeitlichen wie räumlichen Unbestimmtheit (angefangen von der klassischen Statue von Knidos bis zu den später entstandenen römischen Venusdarstellungen) den für sie charakteristischen rätselhaften Charakter. In der Auflösung der Grenzen zwischen Körper und Raum zeigt sich eine Realität, die in allem Erfassen niemals vollständig erfasst werden kann. Dabei verweist sie einerseits auf die Widersprüchlichkeiten, auf die Vielfältigkeit und Wandelbarkeit von Weiblichkeitsvorstellungen, andererseits auf einen der bekanntesten antiken Schöpfungsmythen der abendländischen Kulturgeschichte, in der der Bildhauer Pygmalion mit göttlicher Hilfe eine Statue verlebendigt. Das zentrale Thema der Erzählung, die Ovid in seinen Metamorphosen verfasste, ist das Lebendigwerden der Kunst angesichts eines zerfallenden Lebens. Der Mythos des Pygmalion und seiner selbsterschaffenen Frau Galathea ist bis heute eine der häufigsten Männerfantasien und ein Sujet in Literatur und in den bildenden Künsten. Dabei galt die Verbesserung des natürlich Gegebenen allerdings nicht nur der Frau. Man kann behaupten, dass ganz allgemein die Optimierung des Menschen zu einem „hyperanthropos“ (Lukian), einem „neuen Menschen“ (Marxismus) oder einem „Übermenschen“ (Nietzsche) stets eine sinnentleerte Formel für eine jahrtausendealte Wunschvorstellung der Menschheit war, die von Humanisten, Revolutionären, Fantasten und Nationalsozialisten mit einer jeweils der Ideologie entsprechenden Bedeutung gefüllt wurde. Die Figur der Aphrodite von Knidos betrachtete man schon in der Antike als vollkommenstes Abbild einer nackten Göttin und Frau, da es Praxiteles gelungen war, eine so authentische Gestalt zu schaffen, daß sie einen Mann über ihre künstliche Natur hinwegtäuschen konnte, wie es auch in Eichendorffs Novelle „Das Marmorbild“ geschieht. Praxiteles’ Aphrodite gilt als die erste uns bekannte griechische Frauenstatue, die von allen Seiten vollständig nackt zu sehen war. Ihre Nacktheit wurde gleichgesetzt mit Reinheit und Natürlichkeit, dabei wird der Charakter der Statue vielmehr vom Zauber des Frauenbildes an sich und nicht von der Würde der Göttin bestimmt.

In „Haltung“ wird der Charakter und das Erscheinungsbild der glatten, kühlen und göttlichen Schönheit konterkariert, hat die gezeigte Aphrodite nichts mit dem klassischen Schönheitsideal gemein, sie ist stattdessen maskiert, versteinert, fragmentiert und im Gegensatz zur Staue ist ihre Schönheit dem Verfall unterworfen. Durch Zerstückelung, Überblendung, Verschiebung und Neuverknüpfung von Motiven (Tauben und die zerteilte Aphrodite) entsteht eine Vielfalt, die Verwirrung beim Rezipienten stiftet. Optisch bindet sich die Darstellung des Symptoms am Maskenhaften des Kopfes der Protagonistin, der wie zu Stein erstarrt und losgelöst vom Körper schwerelos im Raum zu schweben scheint. Das bleiche, totenähnliche Erscheinungsbild ist ein Indikator für die Diskrepanz zwischen Traum und Wirklichkeit; das starre Gesicht, wie eine Totenmaske, kann hier nicht als edle kühle, marmorähnliche Blässe gewertet werden, sondern als Totenblässe. Zwei Motive sind hier verschmolzen, das der realen, dem Verfall unterworfenen Frau und das Bild von der ewig schönen jungen Frau.

So spiegelt der vom Körper losgelöste Kopf, als Fragment, in der Großaufnahme die Verlorenheit, vollzieht die Kamera im Außenraum der Bilder, was sich im Innenraum der Wahrnehmung der Protagonistin abspielt. Durch die bedeckende Schicht auf dem Gesicht variiert der Kopf zwischen Starre und Beweglichkeit, entsprechend der Spannung zwischen Körper und Seele. Die starre, versteinerte Haltung, das tiefschwarze blicklose Auge symbolisieren 6 die dialektische Verbindung von Tod und Leben. Das Verfahren der Maskierung bezieht sich hier nicht nur auf den maskenhaft erstarrten Kopf sondern auch auf den ganzen Körper. Außerdem wird durch die szenische Reduktion eine Monotonie erzeugt, die die vorherrschende melancholische Stimmung betont und verstärkt. So organisiert der Film in der Kopf-Szene aus unterschiedlichen Perspektiven den Akt des Schauens, der Voyeurismus ist gleichzeitig implizit und explizit dargestellt. Eine weitere mögliche Sichtweise, weil noch direkter auf das Bild bezogen, ist die Interpretation von der Vernunft/Rationalität im wachen Zustand auf der einen Seite und den Träumereien/Irrationalität eines Schlafenden auf der anderen Seite. Denn durch das immer wieder plötzliche Auftauchen und Verschwinden von Bildern und Eindrücken gestaltet sich für den Rezipienten der Schauplatz des Sehens ähnlich wie für den Träumer. Wie im Traum wird etwas gezeigt, das sich dem unmittelbaren Subjekt entzieht. Im Film wie im Traum ist das Subjekt das eines fremden Blicks. Die Kamera übernimmt die Steuerung des Blickes; der Blick des versteinerten Kopfes ist der geblendete Blick und der Blick selbst, der sich als Blick in die Kamera narzißtisch fixiert. Diese bildlich umgesetzte Reflexion über den Blick des Selbst und den der anderen verdeutlicht so gleichzeitig die Gültigkeit des illusionistischen Scheins der Bilder im Film. Die Betonung des Bildes markiert somit die Künstlichkeit der Darstellung. Dabei entsteht ein Gesamtkunstwerk, das den Rezipienten auffordert, die konstituierenden Zeichensysteme des Films über Bildinhalt, Bildbewegung, Bildfolge, Musik, sowie ihre Verbindung zur Bedeutungsbildung zu deuten.

Susanne Weber-Lehrfeld will provozieren, verunsichern, verführen, daher ist die Subjektivität in ihrem Film von innen her strukturiert. In dieser unmittelbaren Erfahrung des Sehens kann der Zuschauer nicht nur verführt, sondern auch angeleitet und aufgefordert werden zu einer reflexiven Überprüfung des Gesehenen, im Intellektuellen wie im Emotionalen. Béla Balázs schreibt hierzu treffend: „Der Film ist die Kunst des Sehens. Seine innerste Tendenz drängt also zu Enthüllung und Entlarvung. Trotzdem er das gewaltigste Blendwerk liefert, ist er in seinem Wesen nach die Kunst der offenen Augen.“